Römer 3,24-26


von Esther Keller-Stocker

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7. Exkurs:
Die matrizentristische Struktur

im AT 

Bevor ich mit III. Mose 16 weiterfahre, möchte ich auf die matrizentristische Struktur im Alten Testament eingehen:

Leo Frobenius berichtet von zwei unterschiedlichen Kulturen in Afrika (59), eine Bauern- und eine Hirtenkultur. Die afrikanische Bauernkultur beschreibt er als tellurisch und streng patriarchalisch. Der Sohn folgt seinem Vater in der Hierarchie, während die Frau im Gebären von Kindern zum "Vollmenschen" wird. Demgegenüber hat er eine afrikanische Hirtenkultur entdeckt, die er als "chthonisch-matriarchal" bezeichnet. Viele Völker um das ganze Mittelmeerbecken lebten einst in dieser Lebensform (60). Das Familienzentrum ist die Frau, denn:

die Frau verarbeitet die Häute zu Leder; sie hütet und melkt das Vieh, sie errichtet im Nomadenleben Zelt und Hütte; sie näht, flickt, spinnt, webt; dabei verrichtet sie noch die ganze Küchenarbeit vom Wasserholen bis zur Speisevorlage. Der Mann aber ist nur Krieger und Jäger. Im übrigen spielt er, besonders wenn er irgendwo versagt, eine recht kümmerliche Rolle und wird von den Bedjafrauen am Roten Meer ebenso wenig geachtet und dem eigenen Bruder in allen Ausdrücken der Zutunlichkeit und Fürsorge des Herzens untergeordnet wie bei den primitiven Berbern der westlichen Hamiten (S. 43).

Ähnliche Strukturen finden sich im Alten Testament. Die altorientalischen Stadtstaaten mit ihrem bäuerlichen Hinterland sind patriarchalisch strukturiert. Anders verhält es sich mit den Beduinen. Im Alten Testament wird den altorientalischen Beduinenstämmen zwar eine patriarchale Genealogie verpasst (z.B. I. Mose 5). Diese Genealogien reichen aber höchstens ins 5. Jahrhundert v. Chr. (61). Auch die Erzählungen der Väter Abraham, Isaak und Jakob sind nach 584 v. Chr. entstanden. Andererseits finden wir im Alten Testament Frauen vor, die eine hohe selbständige Stellung innehatten ganz nach der Beschreibung von Leo Frobenius.

Gideon zum Beispiel versteht sich als "Sohn seiner Mutter" (Ri. 8). Und der Sohn Gideons, Abimelech, wurde König von Sichem, nicht weil er Gideons Sohn war sondern der Sohn seiner Mutter (Ri. 9).

In den Abrahamsgeschichten wurden notdürftig Mutterclane (62) mit dem Patriarchen Abraham in Verbindung gesetzt: So war etwa Isaak gar nicht der Sohn Abrahams sondern der Sohn Jahwes. Dieser besuchte in Gestalt dreier Fremden Abraham und Sarah (I. Mose 18). In I. Mose 21 heisst es:

Jahwe aber nahm sich Saras an (pqd), wie er gesagt hatte, und Jahwe tat an Sara, wie er geredet hatte: Sara wurde schwanger und gebar Abraham in seinem Alter einen Sohn, zu der Zeit, die Gott angekündigt hatte.
(I. Mose 21,1-2, Zürcher Bibel).

Pqd bedeutet "sich jemandem annehmen" aber auch "jemand heimsuchen". Abraham gab dem Sohn bei der Geburt den Namen Isaaq. Aber Sarah deutet ihn:

Ein Lachen hat mir Gott bereitet (V. 6, Zürcher Bibel).

Der Deutung zufolge hat eher Sarah ihrem Sohn den Namen gegeben. Isq heisst aber nicht nur Lachen sondern auch Geschlechtsverkehr haben (63).

In einer ähnlichen Erzählung wird von Hagar an der Quelle El Roi (I. Mose 16) berichtet:

So nennt Hagar Gott: Du bist der El-Roi (Gott des Schauens). Denn, sprach sie, wahrlich, hier habe ich den nachgeschaut, der mich erschaute (V. 14).ü

Eng mit dem Gott hat mir nachgeschaut ist die Geburt Ismaels verbunden (V. 15). Auch dieser Gott, d.h. ein unbekannter Mann, zeugte mit Hagar ein Kind.

Die dritte Frau Abrahams, Keturah, wird in der Genealogie ausdrücklich als Stammmutter genannt:

Epha, Epher, Hanoch, Abida und Elda; alle diese sind Söhne der Ketura (I. Mose 25,4)

Auch die Frauen Esaus, dem Bruder Jakobs, sind nach Robert von Ranke und Raphael Patai unabhängige Stammesmütter (64):

Die Chronisten des Buches Genesis benannten Edoms drei Stammmütter nach dem Hörensagen. Eine von ihnen ist sicherlich Basemat gewesen, aber an die beiden anderen erinnerte man sich entweder als Jehudit und Machelat oder als Adah und Oholibama. Basemat kann "wohlriechend" bedeuten. Oholibama bedeutet soviel wie "mein Zelt ist erhöht" und Adah "Versammlung". Bei "Oholibamah die Chiwiterin" handelt es sich wahrscheinlich um eine Fehllesung von Horiterin. (I. Mose 36)

In Gen. 36,10-14 werden die Söhne Esaus - ebenso wie in Gen. 35,23-6 die Söhne Jakobs - nach ihrer matrilinearen Abstammung aufgezählt. Jakobs Söhne hatten vier Stammmütter, nämlich Leah, Rachel, Bilhah und Silpah. Vielleicht weil Esau nur drei hatte, fügte der Chronist eine weitere hinzu - Timnah, die Schwester von Lotan (Lot) -, um die Parallele herauszustreichen. Die früheren Konföderationen scheinen den zwölf Zeichen des Tierkreises entsprochen zu haben.

Im Alten Testament gibt es auch Hinweise einer Sitte, wonach ein Vater oder ein Ehemann seine Tochter (I. Mose 19,8) respektive Ehefrau (I. Mose 12; 18; 20; Ri. 19) bedrohlichen Elementen auslieferte, um sich selber zu schützen. Bei dieser Sitte dürfte es sich um eine Übergangssituation von der matrilokalen zur patriarchalen Struktur gehandelt haben, denn die Beduinenfrauen bedeuteten den patriarchalen Kulturbewohner als sexuelles Freiwild. Um an sie heranzukommen, tötet man einfach ihre Männer. Ein Beispiel hierfür ist die Vergabe der Sarah an König Abimelech von Gerar mit dem Vorwand, sie sei Abrahams Schwester. Als Abraham vorgeworfen wird, Sarah sei ja seine Ehefrau, erwiderte er:

...nur nicht die Tochter meiner Mutter; so konnte sie mein Weib werden (I. Mose 20,12 Zürcher Bibel)

Sara und Abraham hatten den gleichen Vater aber nicht die gleiche Mutter. Nach matrilinearer Sitte waren sie deshalb keine Geschwister. In dieser Situation ist es nicht mehr die Frau, die ihre Partner auswählt, sondern sie wird von ihrem Ehemann an einen mächtigen, ihn bedrohenden Mann ausgeliefert. Dies entspricht dem patriarchalen Verständnis des Autors dieser Erzählung, aber auch dem patriarchalen Verständnis unserer Exegeten, die sich im alttestamentlichen Vaterkult sonnen und in den Heiligen Schriften nichts an Frauenpower finden. Sie pochen auf die Vätergenealogie, Abraham, Isaak und Jakob, und dies obwohl gerade ihre Kreise solche Vätergenealogien immer jünger ansetzen müssen (65). Da ist sogar die Rede, dass diese alttestamentlichen Texte ins 2. Jahrhundert vor Chr. angesiedelt werden müssten. Traditionen, in denen Abraham, Isaak und Jakob in die Zeit der Könige von Israel und Juda reichen, sind nicht auszumachen. Im Gegenteil, es scheint, dass während der Könige von Juda und Israel eine matrizentristische Sturktur parallel zum patriarchal organisierten Königtum bestanden hatte. Ein  Beispiel dazu ist die Legitimation des neu gefundenen Gesetzesbuch zur Zeit der Reformation Josias um 620 a. (II. Kön. 22): Bei der Renovation des Jerusalemer Tempels soll das alte Gesetzbuch gefunden worden sein. Um dieses Gesetzesbuch zu legitimieren, eilte der König mit seinen wichtigsten und höchsten Staatsbeamten stracks zur Prophetin Hulda. In unserem vorliegenden Text scheint die Prophetin Hulda irgendeine Kammerzofe zu sein. - Das ist aber undenkbar, denn offenbar war keiner am königlichen Hof ausser sie befugt, das Gesetzesbuch Jahwes zu legitimieren. Sie war also keine Zofe sondern hatte das höchste Amt inne, stand noch über dem König. Was die Prophetin Hulda vor den Amtsträgern des Landes gesagt hatte, wissen wir nicht. Denn im Nachhinein legte der Redaktor der Prophetin seine eigene Rede in den Mund.

Wie heutige Exegeten mit der  matrizentristischen Struktur umgehen, mag das folgende Beispiel zeigen: Die Autoren Erhard S. Gerstenberger und Wolfgang Schrage wundern sich in ihrem Buch "Frau und Mann" über das freizügige Verhalten einer Sunamitin, die von sich aus den Propheten Elisa auf dem Dach ihres Hauses einquartierte (II. Kön. 4):

Der Prophet Elisa, ein mittelloser, wandernder Gottesmann kehrt regelmässig bei einer reichen Familie in Sunem ein (V. 8). Genauer gesagt: Die Hausfrau legt grossen Wert darauf, ihn bei sich zu Gast zu haben. Sie ist es auch, die ihrem alternden Mann (V. 14) den Vorschlag macht, dem heiligen Besucher ein nettes, ruhiges Gästezimmer einzurichten (V. 9f.). Erstaunlich, dass nach Meinung der Erzählers die einfache Mitteilung an den Ehegatten genügt, um den Plan entscheidungsreif zu machen und in die Tat umzusetzen. Es taucht nicht der leiseste Verdacht auf, die reiche Dame könnte sich auf geschickte Weise Zugang zu einem Liebhaber verschaffen wollen; nicht einmal im Zusammenhang mit der Ankündigung der Geburt eines Sohnes (V. 16f.) wird dieser Gedanke laut. Als dann der schon herangewachsene Sohn plötzlich stirbt (V. 20), liefert die Sunamitin ein noch auffallenderes Beispiel ihrer inneren und äusseren Unabhängigkeit. Sie gibt ihrem Mann Anweisung, sofort einen Sklaven und ein Reittier bereitzustellen, sie müsse dringend den Propheten Elisa aufzusuchen (V. 22). Man stelle sich vor: Der einzige Sohn liegt tot im Haus, und die Mutter will verreisen! Ist in dieser Situation dem Ehepartner gegenüber nicht ein klärendes Wort fällig? Der Mann der Sunamitin wird als äusserst gutmütig oder gar als schwachsinnig geschildert. Er braust nicht auf, jagt seine Frau nicht aus dem Haus, damit sie die Klagefrauen bestellt und die Beerdigung des Toten in die Wege leitet, nein, er fragt ganz harmlos: "Was willst du denn bei ihm? Heute ist doch weder Neumond noch Sabbat?" (V. 23). Das klingt so, als ob er sich an Feiertagen mit Ausflügen seiner Gattin schon abgefunden habe und nur noch ein wenig verwundert feststelle: Muss sie denn gerade jetzt auch noch fort? Der Gipfel an Nicht-Solidarität aber (das gilt auch unter der Voraussetzung, dass der Ehemann noch nichts vom Tode des Jungen weiss) ist die Antwort der Sunamiten: "Schon gut!" oder "Auf Wiedersehen" (V. 23, schalom). Mehr nicht, dann spricht sie nur noch mit dem Sklaven (V. 24) und reitet davon.

Das ist eine typisch patriarchale Interpretation einer vorgegebenen matrizentristischer Struktur. Der Ehemann der Sunamitin muss weder alt noch schwachsinnig gewesen sein, sondern ihr gehörte alles, und ihr Mann war offensichtlich nicht befugt, ihr in irgendeiner Weise dreinzureden. Er musste auch von der Liebesaffäre gewusst haben, denn an den von ihm erwähnten Neumond und Sabbat fanden orgiastische Feste statt (vgl. Hosea 1-2, bes. 2,11-13).

Die beiden Autoren, Erhard S. Gerstenberger und Wolfgang Schrage kommen bei ihrer Untersuchung zum folgenden Ergebnis:

Nun ist die Geschichte von der dominierenden Sunamitin nicht die einzige dieser Art im AT. Die Liste der Texte, die der Frau eine weitgehende Freizügigkeit in den Kontakten mit der Aussenwelt einräumen, sie also nicht auf Küche und Frauengemächer beschränken, ist recht stattlich. Hierher gehürt 1. Sam. 25, die Erzühlung von der energischen Abigail und ihrem grossspurig haltlosen Mann Nabal. V. 25 geht so weit, eine weibliche Kritik am Herren der Schöpfung festzuhalten: "Er ist, was sein Name sagt, ein Dummkopf; der ist mit Dummheit geschlagen". Von der Frau Manoas war schon die Rede. Bevor sie ihren Mann einschaltet, spricht auch sie in eigener Verantwortung mit dem Boten Jahwes (Richter 13,2-7). Bei der weit bekannten Richterin Debora muss man sich fragen, ob ihr Mann Lapidot nicht der Nachwelt bekannt blieb, weil er mit einer berühmten Frau verheiratet war (Ri. 4,4). Das gleiche gilt von Schallum, dem Ehemann der Prophetin Hulda (2. Kün. 22, 14). Zieht man den Kreis etwas weiter, dann trifft man auf die Hebammen Israels, die freimütig mit dem Pharao verhandeln und sich nicht einschüchtern lassen (Ex. 1,18f) und die übrigen überragenden Frauengestalten des AT: Mirjam, Jael, Isebel, Atalja, Esther, Judith, Ruth. Sie hätten für unsere Behauptung "In Israel vertrat der Mann allein die Familie in der "Öffentlichkeit" sicher nur ein Lächeln übrig gehabt" (S. 46).

Was wollen die beidenEngel rechts Autoren eigentlich beweisen?

Doch nun wieder zurück zu III. Mose 16:

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Interpretation von Esther Keller
Text von 1985, letzte Revision im März 2013