Jesus Christ - Superstar

Eine Rock-Oper (1971)

Interpretation von Esther Keller-Stocker

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8. And remember, when
this whole thing began

I remember when this whole thing began, no talk of God then - we called you a man. Ich erinnere mich, wie das Ganze begann, Keine Rede von Gott - wir nannten dich einen Mann

Wir haben die Sätze my mind is clearer now, you've started to believe, you've begun to matter more, set on fire und nun when this whole thing began. Immer beginnt Judas mit dem Anfang, der einerseits das Auftreten Jesu als Mensch bezeichnet, aber auch das Auftreten des Selbst, das im Unbewussten ruht und als numinoses Licht im Seelenbild Sonne dem Bewusstsein zugänglich wird. Auch no talk of God then - we called you a man drückt die Ambivalenz zwischen dem Archetyp des Selbst und dem Menschen Jesus aus. Der Archetyp des Selbst wird entsprechend unserer patriarchalen Norm „männlich“ aufgefasst und der Vertreter des Neuen wird ebenfalls nur in Gestalt eines Mannes wahrgenommen.

Mit I remember, when the whole thing began scheint es, als ob sich Judas im Zurückbesinnen nun auch seine Projektion zurücknimmt. Doch er verharrt auf sein Dilemma, das in no talk of God, then we called you a man zum Ausdruck kommt, indem er in Jesus einen Mann sieht, wie Judas selber einer ist. Aber er fühlt auch das Andersartige an Jesus. Da aber sein Gefühl identisch ist mit seinem Unbewussten, hat es auch die Ambivalenz von fascinosum-tremendum, das Judas zeitlich verschoben erfährt: Zuerst war er so euphorisch wie die Jünger um Jesus und die Menschenmasse, jetzt fürchtet er sich vor dem, was kommt. In seiner Furcht schleudert er Jesus ein Nein entgegen, ein Nein, das aber dem Selbst gilt, der numinosen Grösse ohne Zeit und Raum. Sein Nein gegen Jesus löst in Judas grosses Unbehagen aus, denn der Auftrag vom Unbewussten an ihn, der göttliche Auftrag ist seine Ganzwerdung. Und diesen Auftrag greift er mit seiner unbewussten Intuition auf, aber projiziert ihn aufgrund seines Denkens auf Jesus. Er beschwört Jesus and believe me - my admiration for you has’t died. Er versucht Jesus klarzumachen, dass Judas um das Gute, das von Jesus kommt, weiss, ABER die Menschenmenge etwas anderes daraus macht: But every word you say today, gets twisted round some other way.Das stimmt, aber es ist auch sein Problem, denn er ist es, der am meisten spricht und Jesus nicht versteht.

And believe me - my admiration for you hasn't died, but every word you say today Gets twisted round some other way And they'll hurt you if they think you've lied. Und glaube mir - meine Bewunderung für dich ist nicht gestorben. Doch jedes Wort von heute hüpft herum auf anderen Wegen. Und sie werden dir verletzen, wenn sie denken, du hast gelogen.

And believe me - my admiration for you hasn’t died soll auch seine Ernennung zur rechten Hand Jesu I'm your right man all along legitimieren, denn wieder spürt er, das etwas in die falsche Richtung geht. Gleichzeitig erfährt er in diesem Zugeständnis einen partiellen Verlust seiner Persönlichkeit. Nach unserer patriarchalen Norm will er der Beste sein und nun muss er feststellen, dass Jesus, der ihm nicht zuhört, irgendwie besser ist als er. Wenn Judas freiwillig auf „der Beste sein“ verzichtet, erfährt er dies als Opfer.

In my admiration for you hasn’t died birgt aber ein weiteres Mal sein Problem, denn wenn seine Bewunderung noch nicht gestorben ist, kann er auch die Projektionen auf Jesus nicht zurücknehmen. Stattdessen erkauft er sich als Opfer das Recht, Jesus weiterhin objektiv dessen Scheitern vorzurechnen: but every word you say ...

9. Nazareth your famous son should have stayed a great unkown

Im neuen Ansatz, die ihm Klärung bringen soll, greift Judas auf das Städtchen Nazareth. Stadt ist ein Symbol der Grossen Mutter. Sie schützte den Bürger mit ihren gewaltigen Mauern gegen das Chaos draussen (44) . Doch solche Stadtmauern wurden immer wieder zum Stürzen brachten. Von wem? Von fremden Legionen, Krieger, Ritter, d.h. das archetypisch Männliche in seinem destruktiven Aspekt. Im patriarchalen Bewusstsein ist die Stadt Besitz eines mächtigen Mannes. Repräsentierte die „Stadt“ die Kosmosordnung, so war es der mächtige Mann oder Gott, welcher diese Kosmosordnung anordnete. Im Alten Testament sind die Städte Jerusalem und Samaria die töchterlichen Ehefrauen Gottes, die von diesem Gott ihre Macht und ihren Besitz erhalten hätten.

Judas benennt nicht die konkrete Mutter Jesu sondern die Stadt, in der Jesus lebte. Also wieder ein Hinweis auf die Verdrängung des Weiblichen. Demgegenüber erwähnt Judas den Vater Jesu, ein Carpenter. Auf Deutsch kann das Schreiner, Zimmermann, Tischler, Zimmerer heissen (45), also jemand, der mit Holz arbeitet. Der Handwerker ist ein Urbild des Grossen Vaters, das sich in der Geborgenheit der Grossen Mutter in der Jungsteinzeit entwickelt hatte (46). Mit seinem Können schafft er eine neue Schöpfung, eine bequeme Schöpfung, die wir nicht missen wollen. "Stühle, Tische" sind Grundlagen unseres Lebens wie Luft, Wasser und Erde. Sie sind wichtiges Mater-ial. Der Schreiner erschafft in der Mater-ie das Mütterliche und entwertet es gleichzeitig. Ein schönes Beispiel aus dem Alten Testament ist die Erzählung eines anderen Handwerkers, dem "Töpfer" vom Propheten Jeremia 18: Jahwe als Töpfer kann mit den Töpfen machen, was er will. Er kann sie wunderbar gestalten, sie aber auch zerstören. Dass der Töpfer auf das Mater-ial, dem Ton, angewiesen ist, vergisst er. Auch erhält im Gleichnis bei Jeremia „der Ton“ eine Eigendynamik, die mit dem realen Ton nichts mehr zu tun hat.

10. Like his father carving wood - he'd made good

Die Verdrängung des Archetyps der Grossen Mutter, welcher in Nazareth ein weiteres Mal aufblitzt, zwingt Judas zur Auseinandersetzung mit der Gegenposition, der Auseinandersetzung mit dem Grossen Vater. Die Vorstellung Vater empfindet er als ungefährlich, weil er sie konkret auf den Vater Jesu projizieren kann.

Nun scheint er die Lösung seines Problems gefunden zu haben. Endlich kann er die ihn aufgebrachte Messias-Vorstellung, für die er bislang keine Erklärung gefunden hat, denkerisch entfalten. In like his father carving wood - he’d made good setzt er der herumschwirrenden Idee von Messias und God einen konkreten Vater gegenüber. Der Vater entspricht Gott als der Ewige Macher, er kreiert aus Holz Stühle, Tische und Truhen.

Erleichtert greift er auf kollektive Vorstellungen, die im Materialismus das Heil erblicken. Und so zielt er mit he’d made good auf die Güter (good) ab. Wäre Jesus still bei den Leisten des Vaters geblieben und hätte für weitere Konsumgüter gesorgt, wäre die bisherige patriarchale Struktur unangetastet und alles in Ordnung gewesen.

Judas hat aber die Ambivalenz eines geordneten Berufes und den ihn dadurch einengenden Gesetzen erfahren. Für ihn hat sich die Situation geändert. Der Widerspruch von Vergangenheit und seiner aktuellen Lage kommt durch die plötzliche irrationale Form zum Ausdruck:

Nazareth your famous son should have stayed a great unknown.
Like his father carving wood - he’d have made good.

Das Irrationale, wie Judas seine Situation jetzt erlebt, ist auch daran zu erkennen, dass er Jesus nicht mehr mit you anspricht sondern mit he.

Der Baum war im Alten Orient vorwiegend das Symbol der Grossen Mutter. Typisch sind im 1. Jahrtausend vor Christus der stilisierte Baum, welcher als Göttin verehrt wurde (47). Aus dem Alten Testament kennen wir die Bundeslade. Sie ist ebenfalls ein stilisierter Baum und als Göttin verehrt.

Das Gefühl, nun endlich die Lösung gefunden zu haben, - die aber keine Lösung ist, weil sie der Satz im Irrationalen gehalten ist,- beflügelt Judas so sehr, dass er geradezu übermütig all diejenigen Güter aufzählt, die Jesus zu seinem eigenen Wohl herstellen sollte, aber ganz konkret in Bälde für die Hinrichtung Jesu nötig wird: Tables, chairs and oaken chests would have suited Jesus best: Die Stühle, damit die Priester und Richter sich setzen, die Tische, um darauf das Todesurteil unterzeichnen und die Kiste, um den Toten hineinlegen zu können.

11. OAKEN CHEST

Im Alten Testament wird die Lade im Ersten Samuelbuch als Kriegsheiligtum beschrieben. König David brachte sie nach Jerusalem, wo sie zu Ruhe kam (II. Samuel 6). Durch Jeremia erfahren wir, dass von der Lade auch die Fruchtbarkeit der Menschen und des Landes hervorgeht (Jer. 3,16). In diesem prophetischen Spruch repräsentiert die Lade die Vegetationsgöttin der Judäer. Im 2. Buch Mose 25.10ff. soll die Lade aus Akazienholz hergestellt werden, um die Zehn Gebote hineinzulegen. Akazie ist der Baum der Göttin Al-Uzza. Al-Uzza war neben Al-Lat die Hauptgöttin der vorislamischen Araber (48).

Im Alten Ägypten wird der tote Osiris in eine Truhe gelegt und dem Nil übergeben (49). Auch Joseph, der zweitjüngste Sohn Jakobs, wurde nach seinem Tod in Ägypten einbalsamiert und in eine Lade gebetet (I. Mose 50,26). Mose nahm ihn im Sarg mit auf die Wüstenwanderung (II. Mose 13,19). Als die Israeliten im Gelobten Land ankamen, beerdigten sie ihn in Sichem (Josua 24.32). Das Mitführen der Gebeine Josephs durch die Wüste weist eigentlich auf eine Prozession durch die Wüste hin.

Aber Chest, die Kiste ist auch ein Symbol der Wiedergeburt. So wird das Sonnenkind nach seiner Geburt in ein Kästchen hineingelegt und dem Wasser übergeben. Aus dem Alten Testament kennen wir die Arche Noah und das Binsenkörbchen, in dem Mose dem Nil ausgesetzt wurde (II. Mose 2).

Judas in unserem Text betont auch aus welchem Holz die Lade besteht: oaken chest. Die Eiche hatte bei den Germanen eine grosse Bedeutung (50). Die Eiche war der heilige Baum des Himmels- und Donnergottes. Wegen der Härte des Holzes und des stattlichen Wuchses gilt die Eiche als Symbol der Stärke und Männlichkeit, ein Bild für Kraft und Beharrlichkeit. Die Eiche überdauert Jahrhunderte und war deshalb bei den Germanen der Gerichtsbaum (51). Im europäischen Mittelalter hatte ein Ereignis eine wichtige Bedeutung für die Entwicklung des rationalen Denkens: Es geschah 722 n. Chr. als Bonifatius das Dorf Geismar an der Eder besuchte, wo die uralte Eiche des Kriegsgott Thor stand. Bonifatius nahm kurzerhand eine Axt und fällte den Baum. Trotz der sakralen Bedeutung des Baumes und des ganzen Ortes, der Kriegsgott Thor rächte sich nicht dafür.

Heute stehen wir am anderen Ende dieser Entwicklung. Der Maler Ferdinand Hodler hat in seinem Bild "der Holzfäller" das Fällen von Bäumen ad absurdum geführt. Den auf diesem Bild fällt der Mann mit der gleichen Energie einen Baum wie im Mittelalter Bonifatius, obwohl es kaum Bäume gibt.

Hodler, der Holzfäller

Ferdinand Hodler: der Baumfäller

Der Holzfäller schlägt einen Baum um, obwohl es praktisch keine Bäume mehr gibt, die das gebirgige Gebiet vor Erosion schützen sollten.

In Griechenland war die heilige Eiche von Dodona ein wichtiger heiliger Ort. Er beherbergte das älteste griechische Orakel. Der Tempel des Zeus erhob sich am Fuss des Berges Tamaros. Es war eine wilde, dramatische Landschaft und war bekannt für heftige Gewitter und grosse Kälte. In Dodona gaben nach Pausanias (2. Jh. vor Chr.) Prophetinnen Besuchern Rat. Die Ratsuchenden näherten sich der Eiche; der Baum regte sich einen Augenblick, worauf die Frauen in Ekstasen berichten: "Zeus verkündet dies und jenes" (52). Diese Orakelstätte mit den Prophetinnen hatte eine matriarchale Struktur. Denn in matriarchalen Strukturen war es üblich, dass Frauen einen männlichen Gott verehrten. Er war das unbewusste Männliche ihrer Seele, der numinose Animus. In patriarchalen Strukturen nehmen Männer die Stellung des numinosen Animus ein und sind dessen Vertreter.

In der Aufzählung des Judas kommt der Begriff Oaken Chest so unscheinbar daher, und doch sind es die zwei bedeutendsten Wörter im 1. Auftritt und in der ganzen Rockoper überhaupt. Jesus als Inkarnation des Selbst ist wohlbehütet, wie in einer Kiste aus dem Ozean des Unbewussten hervorgekommen. Er dient nun dem Patriarchat unter der Dominanz des Grossen Vaters als Projektionsfläche und für deren Weigerung ans Kreuz geschlagen. Das hölzerne Kreuz gilt in der Psychologie von C. G. Jung ebenfalls als Symbol der Grossen Mutter. Aber auch hier gilt, das Kreuz wurde von einem Handwerker GEMACHT, an sich hat sie keine selbständige Macht sondern folgt dem Diktat des Patriarchats (53).

Oaken chest ist wie die Trennlinie zwischen Bewusstsein und der unbewusste Symbolik, die das neue Bewusstsein begründet. Die Energie, die dabei frei gesetzt werden, verlangt ein Opfer. Oaken Chest weist auf das Tote hin, das Judas mit sich herumschleppt, das Überlebte, das auch im Film in den Ruinen und der Wüste zum Ausdruck kommt. Wenn Judas in unserem Text betont von oaken chest spricht, nimmt er den Beschluss der Priester symbolisch vorweg. Denn die Priester als Vertreter des Grossen Vaters beargwöhnen die Massenbewegung. Eine laut singende Menschenmenge bedeutet Aufruhr, Aufruhr gegen die Behörde. Diese Gefährdung you set them all on fire ist wie der Blitzschlag, den die Eiche trifft. Und der Funken der Massen gefährdet die hergebrachte patriarchale Ordnung.

Oaken Chest weist auf die unbewusste Ganzheit: Chest als Manifestation der Grossen Mutter, Oaken als die des Grossen Vaters. Er spricht unter der Eiche seinen Richtspruch. Aber auch schon vorher kommt diese unbewusste Ganzheit zum Ausdruck, in Nazareth und sein Vater. Nazareth im Bild eines Städtchens repräsentiert die Grosse Mutter. Sein Vater resp. Carpenter als (Ewiger) Macher steht für den Grossen Vater. Weiter: Myth of the man. Myth steht für das Reich der Grossen Mutter, dessen Repräsentant the man ist. Der ganze Text dreht sich also um das Mythologem der Eltern, dem Ursprung ewiger Zeugung und Geburt, aus dem das neue Bewusstsein entspringen soll.

* * * ENDE * * *

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Interpretation von
Esther Keller-Stocker (Schweiz)
Text 1986, letzte Revision Februar 2014