Jesus Christ - Superstar

Eine Rock-Oper (1971)

Interpretation von Esther Keller-Stocker

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4. Die Sonne als Gottheit

In Europa gab es in eine andere Sonnentradition, die viel älter war als irgendeine in den altorientalischen Hochkulturen, die Tradition der alteuropäischen Sonnengöttin, die tief in die Urgeschichte reicht. Sie ist, wie Marija Gimbutas zeigt (18), ein Aspekt der allumfassenden Muttergottheit.

4.1. Die alteuropäische Sonnengöttin

Die Sonne als Muttergottheit war im Alten Europa und im Vorderen Orient allgegenwärtig. Sie ist, wie Marija Gimbutas eindrücklich gezeigt hat, uns als Auge der Vogelgöttin überliefert.

Das Sonnenauge spendet Regen in Form von Tränen. Der Regen gehörte zusammen mit Flüssen und Quellen zum fruchtbaren Aspekt der Grossen Mutter. Flüsse und Quellen werden als mütterliche Brüste und mütterlichen Schoss dargestellt (19).

Sonnengöttin Der Statuette fliessen die Wasserströme aus den schlitzförmigen Augen einer Muttergottheit über deren schweren Brüsten herab.
(Mähren, ca. 24'000 v. Chr.).

Neben der Fruchtbarkeit spendenden Eigenschaft sieht das Sonnenauge der Grossen Mutter auch alles. Und zwar nicht nur am Tage sondern auch in der Nacht, nicht nur draussen sondern auch drinnen in den geheimsten Winkeln der Seelen. In dieser Funktion wird sie als Eule dargestellt, die mit ihren Augen die Eule Dunkelheit durchdringen. Das alles sehende Sonnenauge hielt den Menschen zum moralischen Handeln an. Als moralische Instanz wirkt die Göttin auch im finstern Grabe über den Tod hinaus zur Schwelle der Wiedergeburt.

Kehren wir zum Satz "my mind is clearer now" zurück. Judas drückt wie bereits gesagt mit seinem Verstand den immer-klarer-werden Gedanken aus. Auf der intuitiv mythischen Ebene ist es das Bild der Sonne. Im Mythos taucht die Sonnenbarke ab in die nächtliche Unterwelt, wo Dämonen und Gefahren drohen. Am Morgen taucht sie wieder auf. So kennen wir es aus dem ägyptischen Mythos. Die Rückwärtsbewegung erinnert an die Eulenaugen, die das Dunkle, Abgründige schauen, wo Tod und Leben sich vereinen.

* * *

Betrachten wir nochmals das Yin-Yang-Symbol als Darstellung des Bewusstseins am Anfang des Abschnittes "Judas der Denker": Wir sehen die Wahrnehmung zwischen dem bewussten Denken und der unbewussten Intuition und dem unbewussten Fühlen. Wenn Judas die Fakten, die ihm die Wahrnehmung zuspielt, aufgreift, kommen auch Inhalte mit aus dem kollektiven Unbewussten hervor.

Das Bewusstsein auf dem
Yin-Yang-Symbol zwischen Wahrnehmung und Intuition
yinyang3

Diese Inhalte werden als Bilder von seiner Intuition aufgegriffen und passieren die Wahrnehmung ungehindert und werden erst im Denken gewertet, d.h. nach patriarchalen Normen beurteilt.

Vom hellsten Punkt zum dunkelsten Punkt und dann wieder zum hellsten ist auch der Weg der Sonne. Der Sonnenlauf erzählt die Wanderung jedes Menschen in seine Tiefen und Höhen und ist Sinnbild eines jeden Mysterienweges.

4.2. Der Lauf der Sonne im Dunkeln als Mysterienweg

Erich Neumann (20) hat anhand den prähistorischen Höhlenfresken im franko-kantabrischen Raum den Mysterienweg sehr schön beschrieben. In den Fresken sieht er Abbilder des archetypischen Mysterienweges tief in des Berges Innern, hin zur Grossen Mutter.

Seit jeher fühlten sich Menschen vom Berginnersten angezogen, so auch die Frühmenschen im franko-kantabrischen Raum. Hier hatten sie die Möglichkeit tief ins Innere der Berge einzudringen. Um ins Innere des Berges, in den Schoss der Allmutter zu gelangen, überwanden sie grosse Gefahren. Erich Neumann schreibt: Nach stundenlangen erschöpfenden Wanderung durch die Höhlengänge, durch unterirdische Seen schwimmend und sich in engen Schächten verirrend, gelangten sie in eine grossen Halle. Hier in absoluter Finsternis und Stille kam es zur Erleuchtung, zur göttlichen Vision. Marie E. P. König (21) weist daraufhin, dass die bebilderten Höhlen Tausende von Jahren rituell begangen wurden.

Ein markantes Motiv der Höhlenfresken ist der sterbende Bisonstier. Er bricht unter den Pfeilen des Jägers zusammen. Der Stier ist ein Symbol des Mondes. Marie E. P. König zeigt an diesem Fresko (22), dass die Hörner des Bisons die vier Mondphasen darstellen. Die vier Mondphasen brachte der Mensch schon immer in Verbindung mit Tod und Geburt.

Bison von Pfeilen getötet
Ein Bison von Pfeilen getötet (Höhlenmalerei)
Symbol von Tod und Wiedergeburt

Der Mond stand wie der Stier seit jeher in enger Beziehung zur weiblichen Fruchtbarkeit und damit auch zur Geburt, die für Mutter und Kind bis vor ein paar Jahrzehnten eine bedrohliche Angelegenheit war. In der Geburt kommt Tod und Leben am engsten zusammen.

Der Bisonstier auf dem Bild ist von Pfeilen getroffen. Pfeile waren seit jeher Symbole der Sonne. Sie stellen die Sonnenstrahlen dar, die das Opfer tötet. Wie aber muss man sich ein solches Ereignis von Jäger und Opfer vorstellen? Leo Frobenius berichtet in "das unbekannte Afrika": Vier Jäger (drei Männer und eine Frau) trafen sich am Abend auf einem Platz, wo das zu jagende Tier in den Sand gezeichnet wurde. Der erste Sonnenstrahl, der die Zeichnung am frühen Morgen traf, tötete auf magische Weise das gezeichnete Tier. Die Jäger vollstreckten das magische Geschehen, indem sie das Tier jagten und erlegten. Ähnlich darf man das Jagdritual der Frühmenschen in den franko-kantabrischen Raum vorstellen. Der Pfeil vollstreckte die Absicht der Sonne, den Stier als irdische Gestalt des Mondes zu töten.

Jean Gebser hat die die Beschreibung von Leo Frobenius übernommen (23). Zum rituellen Tötung des Tieres durch die Sonne meint er: Der prähistorische Jäger überantworte mit dem Ritual die Tötung des Bison auf die Sonne, statt die volle Verantwortung für die Tat zu übernehmen, wie man das heute tut. Diese Schlussfolgerung von Jean Gebser ist blauäugig, ist es doch unser sonnenhaftes Ich-Bewusstsein, das nicht nur einzelne Bisons erlegt sondern ganze Tierarten unwiderruflich ausrottet und dies ohne grosse Schuldgefühle.

In der Höhle zu Lascaux (Frankreich) überspringt eine Kuh mit verkürzten Beinen eine Pferdeherde. Sie erinnert an Hathor, an die ägyptische Kuhgöttin und Himmelsgöttin (24). Überhaupt scheint der Alte Orient aus den europäischen Höhlenfresken Motive übernommen und weiterentwickelt zu haben. Davon ist auch Marie E. P. König (25) überzeugt und Jürgen Spanuth beschreibt in "die Philister - das unbekannte Volk", wie Europäer im 4. Jahrtausend vor Christus Rinder und ihre Kultur nach Ägypten gebrachten hätten.

Kuh springt über die Pferdeherde
Kuh mit verkürzten Beinen springt über eine Pferdeherde (Höhlenmalerei Lascaux)

4.3. Der Sonnengott in Altägypten

Eine zentrale Figur im Alten Ägypten war der Totengott Osiris. Als Leichnam wurde er vom Apis-Stier in die Unterwelt getragen, und ab und zu erschien er selber in der Gestalt eines Stieres.

Osiris-Apsis
Osiris-Apis.

Das Alte Ägypten war lebensfroh und festfreudig, doch andererseits befiehl den Ägypter eine eigentümliche Faszination vom finsteren Reich des Todes und dessen Herrscher Osiris. Dazu schreibt Gregoire Kolpatchy:

Der alte Ägypter war fasziniert, hypnotisiert vom Rätsel des Todes. Das ganze Weltall war für ihn ein grandioser, kosmischer Sarkophag, in dessen Mitte sich Osiris befand, der gefallene kosmische Mensch, gefesselt, eingekerkert, paralysiert. Sein Leib war den Kräften des Bösen preisgegeben. Er war identisch mit dem "Ersten Menschen" der Gnostiker und des Mani, mit dem Adam Kadmon der Kabbala, als der Protagonist der kosmischen Urtragödie. Das "gütige Wesen" wurde geopfert, preisgegeben; und dieses Opfer bleibt bis auf heute rätselhaft und voll Geheimnis (26)

Osiris ist meistens mit seinen Schwestern Isis und Nephthis anzutreffen. Die beiden Göttinnen schützen ihn mit ihren Flügeln.

Isis, Osiris, Nephthis
Isis, Osiris, Nephthis

Die andere grosse göttliche Gestalt war der Sonnengott Re aus Hierapolis. Im Neuen Reich wurde er mit Amun aus Theben zur Gestalt Amun-Re verbunden. Der helle Sonnengott Amun-Re, der auf seiner Bahn die dunkelsten Winkeln der Erde und der Seele durchleuchtet, wirkt wie die Kompensation zum passiven Osiris. Amun-Re bahnt sich seinen Sonnenweg im Kampf und lässt zur Mittagszeit durch seine Crew ein Ungeheuer, die Apophisschlange, töten.

Am Abend wechselt er im Westen in die Nachtbarke, geht in den Mund der Himmelsgöttin Nuth ein und durchfährt die Nacht begleitet von Dämonen und Toten. Mitten in der Nacht trifft Re den Totengott Osiris. Die beiden umarmen sich in der Vereinigung von Vergangenheit und Zukunft. Am Morgen verlässt Re als neugeborenes Kind, als Horus, den Nachthimmel, indem er aus dem Mund der Himmelsgöttin fährt, während Osiris als Leichnam in der Unterwelt zurückbleibt.

Eine wichtige Gestalt in der Crew des Sonnengottes war Maat, die Göttin der Gerechtigkeit und der Weltordnung. Sie füttert und bekleidet den Gott Re mit Gerechtigkeit. Wie Hans Heinrich Schmid (27) zeigt, ist mit dieser Gerechtigkeit nicht nur Gerechtigkeit in unserem juristischen Verständnis gemeint sondern die Kosmosordnung schlechthin im Gegensatz zum Chaos, das in der Apophisschlange zum Ausdruck kommt. Im Tagesboot der Sonne steht sie mit Isis am Bug des Schiffes, erkennbar an der Feder auf ihrem Kopf.

Sonnenboot
Ägyptische Sonnenbarke

Mit dem Pharao Echnaton um 1340 v. Chr. kam es zu einem tiefen Bruch in der altägyptischen Religion. Echnaton versuchte den wuchernden Götterstaat und den damit verbundenen Einfluss der Priesterscharen einzudämmen. Kurzerhand verkündete er die Sonnenscheibe als Gott Aton. Aton soll der einzige Gott sein. Neben Aton gab es keine Götter und Göttinnen mehr, auch keine Dämonen und Geister. Mit Aton verschwand aber auch die wichtige Frage nach der Unterwelt und nach dem Tod. Das Volk rumorte und die alte Priesterschaft kämpfte um ihren Einfluss. Nach dem Tode Echnatons wurde der Aton-Glaube sogleich wieder abgeschafft (28). Doch die reformatorischen Ideen um den Gott Aton erlangten unter den Ramessiden eine neue Blüte und wurden im altbekannten Sonnengott Re-Amun verehrt. Hier begann die Vorstellung von der Erschaffung der Welt, indem nämlich Amun-Re die Welt im Prozess seiner eigenen Gestaltwerdung und Ausdehnung erschafft. Jan Assman schreibt:

Jetzt erschafft sich Amun-Re die Welt im Prozesse seiner eigenen Gestaltwerdung und Ausdehnung. In diesem Werden in der Welt dehnt sich Amun-Re in alle Richtungen aus und erfüllt die Welt von innen her aus bis weit über ihre Grenze.

 Sein Leib ist der Wind,
der Himmel ruht auf seinem Haupt
das Urwasser trägt sein Geheimnis.
Sein Priester ist der Falke auf der ...
Du bist der Himmel,
du bist die Erde,
du bist die Unterwelt
du bist das Wasser,
du bist die Luft zwischen ihnen.
Deine beiden Augen sind Sonne und Mond,
dein Kopf ist der Himmel,
deine Füsse sind die Unterwelt (29).

Als einziger Gott und Schöpfer tritt er auch als alleinige ethische Instanz auf. Dabei war unrechtes Verhalten der Menschen nicht mehr verzeihliches Missgeschick wie vor der Zeit Echnatons sondern Sünde vor Gott. Mit diesem Verständnis von Gerechtigkeit verlor die Göttin Maat ihren Einfluss. Jetzt ist es der Wille Re-Amun, der die kosmische Ordnung schafft.

Im 1. Jahrtausend vor Christus hat das Sonnenhafte alle Gottheiten erfasst. Man kann von einer psychischen Inflation der Sonne, des Lichtes im menschlichen Bewusstsein sprechen. Es drückt die Faszination der Grösse und der unabhängigen Macht des Archetyps des Grossen Vaters aus. Der Sonnengott wird zum numinosen Überich, mit dem sich der Mensch identifiziert. Das Resultat ist die Fähigkeit Staaten aufzubauen und zu verwalten. So betont Mircea Eliade, dass Ratio, Staat und Geschichte sich nur entwickelten, wo der Sonnenkult eine überragende Bedeutung spielte (30).

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Interpretation von
Esther Keller-Stocker (Schweiz)
Text 1986, letzte Revision Februar 2014