Jesus Christ - Superstar

Eine Rock-Oper (1971)

Interpretation von Esther Keller-Stocker

¦<<  <   0 1 2 3 4 5 6 7 >  >>¦ LA EMAIL

4.4. Das Sonnenhafte im
Alten Testament

Jahwe setzt im Alten Testament die Faszination von Macht und vollständiger Unabhängigkeit von der Grossen Mutter durch. Er duldet keine Götter neben sich (31). Die Autoren, die im Alten Testament den Auszug Israels aus Ägypten aufschrieben, lebten vom 8. bis 6. Jahrhundert v. Chr. im Nordreich. Um 720 v. Chr. eroberte Sargon II. das Land und sie flüchteten mit einer grossen Anzahl der Bevölkerung nach Juda und nach Jerusalem (32). Diese Autoren projizierten ihr Schicksal und die Treue Jahwes zu seinem Volk ins 13. Jahrhundert v. Chr., in die Zeit Ramses II., wo ein Auszug Israels aus Ägypten stattgefunden haben soll (33).

In der Zeit Ramses II. war Amun-Re alleiniger Staatsgott (34). Obwohl heutige Theologen den Einfluss altägyptischer Religionsgeschichte auf den Jahwe-Glauben ablehnen, ist es doch nicht von ungefähr, dass gerade zu jener Zeit Jahwe das Volk Israel aufgefordert haben soll, zu ihm in die Wüste zu kommen. Die Wanderung durch die Wüste soll 40 Jahre gedauert haben. Sie ist wie die Begehung der frühen Europäer im franko-kantabrischen Raum ein Mysterienweg, deren Höhepunkt die Begegnung des Volkes mit Jahwe am Horeb darstellt. Doch anders als im südlichen Europa, wo der Weg ins Innerste des Berges, in den Mutterschoss zurückführte, wandern die Israeliten unter der gleissenden Sonne zum Berge Sinai, (Horeb) zum Grossen Vater, der mit gewaltigem Getöse und Feuer das Volk genauso in Angst und Schrecken versetzt wie die Höhlenschlünde der Grossen Mutter in den alteuropäischen Höhlen.

Die Theophanie Jahwes auf dem Sinai lässt offen, ob Gott aus dem Berge stieg oder als Sonne über dem Berge schwebt. In der heutigen Forschung geht man von einem Vulkanausbruch aus, obwohl es in der vermuteten Gegend keine Vulkane gibt oder gab. Ich denke, bei der Theophanie im II. Buch Mose 17 und im V. Buch Mose 5 handelt es sich nicht um historische Aussagen sondern um das geistige Bild der betreffenden Bibelautoren. Sie beschreiben darin die Inflation des Lichtes, eine Inflation des Archetyps des Grossen Vaters. Ihre Seelen standen in Flammen, ihr Credo war ein Vorwärts nach oben, wo das männlich Göttliche waltet. Im Alten Orient war der Gott des Berges der Überwinder des Chaos, der Überwinder der Tiamat, des Urozeans und der Urmutter. Der Berg war das Sinnbild für männliche Majestät und Unerschütterlichkeit.

Der Gang Israels zum Berge Horeb (Sinai) ist der Mysterienweg zum Grossen Vater. Und wie einst die Begehung der Höhlen ist hier der Weg durch die Wüste begleitet von Furcht und Entsagung, eine ständige tödliche Bedrohung, die von Gott selber ausgeht. Dies wird in drastischer Weise in V. Buch Mose beschrieben. In V. Mose 5 gelten die Zehn Geboten als göttliche Anweisung zum Leben und zum Heil, doch rund um diese Zehn Gebote herrscht ein Klima von Terror und Destruktion, die zur unmittelbaren Präsenz Jahwes gehört.

Am dritten Tage aber, als es Morgen wurde, erhob sich ein Donnern und Blitzen, und eine schwere Wolke lag auf dem Berge, und mächtiger Posaunenschall ertönte, sodass das ganze Volk im Lager erschrak. ... Der Berg Sinai aber war ganz in Rauch gehüllt, weil Jahwe im Feuer auf ihn herab gefahren war. ... Als nun Jahwe auf den Berg Sinai herab gefahren war, auf die Spitze des Berges, rief er .... (II. Mose 19, 16-20)

Jahwe als düsteres, qualmendes Ungeheuer aus den Tiefen des Bergesinnern erscheint wie der Ausbruch aus der mütterlichen Geborgenheit, denn der Berg galt einst als mütterliche Achse der Welt (35). Der Ausbruch war die Entfesselung archetypischer männlicher Kraft. Dieser Entfesselung erfuhren die Völker auch von den altorientalischen Herrschern, die mit ungeheurer Brutalität mit Ross und Wagen durch die Länder zogen, sie eroberten und sie in ihre eigenen Reiche eingliederten.

Der Unterschied psychischer Befindlichkeit zwischen alteuropäischen Jägern und altorientalischer Herrschern lässt sich an den zwei folgenden Bildern aufzeigen:

europäischer Jäger

Ein Bild aus dem Alten Europa zeigt den Jäger an der Nabelschnur der Grossen Mutter. Im Töten des Tieres sieht er sich als Teil der mütterlichen Geborgenheit. In ihr kommen Leben und Tod zusammen.

altorientalischer Kämpfer

Im Gegensatz dazu tritt der altorientalische Jäger als Krieger auf und unterwirft sich die Welt. Die ungeheure seelische Energie, die mit dem Loslösen aus der mütterlichen Geborgenheit entstand, spaltet das menschliche Bewusstsein in einen hellen männlichen und einen dunklen, weiblichen Aspekt.

Zum hellen Aspekt gehört nun die Ratio, der Verstand, welcher alles Mythische vermeintlich entkleidet. So gilt das Alte Testament als entmythisiertes Werk. Doch das ist nur Schein, denn die alten Mythen, die im Alten Testament verdrängt sind, werden durch einen anderen Mythos ersetzt - vom Mythos des einzigen Gott, der wie jeder Tyrann keine Gleichgestellten neben sich duldet und bedingungslosen Gehorsam erwartet. Die Gefahr, die von ihm ausgeht, zeigt sich in seinem glühenden Zorn, der als ständig tödliche Bedrohung über Volk und Völker schwebt. - Im europäischen Mittelalter stand die Frage im Raum: Was ist das Mittel, um als Mensch diesem Gott zu entfliehen? Die Antwort heisst: "Sich mit ihm identifizieren" (36).

4.5. Judas und Jesus

Judas kämpft wie einst der Sonnengott den Kampf gegen die Grosse Mutter. In unserem patriarchalen Bewusstsein befindet sie sich vorwiegend im kollektiven Unbewusstsein. Den Archetyp der Grossen Mutter nimmt er aussen als aufgebrachte Menschenmenge wahr, ein Sinnbild des Chaos. Er kämpft für die rechte Ordnung. Sein verzweifelter Versuch gilt aber der Restaurierung seines früheren Lebensabschnitt - einer Situation, die er eigentlich verlassen wollte. Er schildert einmal mehr den verzwackten Pakt zwischen Vergangenem und Zukünftigen, in dem das Neue eng mit dem Überholten verknüpft ist. In seinem Gang nach vorn wird Judas von seiner Vergangenheit eingeholt und zwar äusserlich wie innerlich: äusserlich, indem er zurück an seinen angestammten Platz in der Gesellschaft gehen will und innerlich, indem er sich auf sein Denken verlässt, das sich genauso zornig verhält, wie einst Jahwe, der sich von seinen mütterlichen Wurzeln befreit. Jahwes Anspruch an seine Anhänger war, seine unzähligen Gebote auswendig lernen und halten zu müssen. Damit trainierten und disziplinierten sie auch ihr Denken. In Europa wurde das Denken Jahrhunderte lang zunächst in den Klosterschulen, dann in den Städten und später auch in Dörfern trainiert. Zielgerichtetes Denken hat heute einen Höhepunkt erreicht, so dass das kollektive Ich eine Rückwärtsbewegung macht ins kollektive Unbewusste und ein neues Bewusstsein erzwingt. In der Rock-Oper repräsentiert Jesus gegenüber Judas diese neue Ordnung.

Nach der Typenlehre von C. G. Jung ist Jesus am ehesten der Empfindungstyp. Er sagt nicht viel, und was er sagt, entspricht dem, was ist und nicht einer intellektuellen Wertung. Von ihm kommt auch keine symbolische Sprache, denn die Intuition liegt seinem Bewusstsein am Entferntesten. Dafür kann er sich der Wohltat, die ihm Maria Magdalena entgegenbringt, annehmen. Er heilt Menschen durch Berührungen, die die Menschen als Heil und Wunder erleben. Dies weist auf die starke Hilfsfunktion des Fühlens hin, die er entwickelt hat. Mit dem Fühlen ist er dem Weiblichen sehr nahe. So entwickelt sich während den nächsten Auftritten eine Szene mit drei Personen, Judas, Jesus und Maria Magdalene. Sie schildert den altägyptischen Mythos von Seth, Osiris und Isis neu: Seth tötet Osiris, um seine Macht durchzusetzen und Isis trauert um ihren verstorbenen Mann und kämpft um seinen Fortbestand.

Jesus erinnert auch in einer anderen Weise an Osiris. Osiris ist der Gott, der Vergangenes und Zukünftiges in der Unterwelt, also im kollektiven Unbewussten vereint. Und wie der Sonnengott Re, welcher durch die mitternächtliche Umarmung mit Osiris zu dessen gegenwärtigen Manifestation am Tageshimmel wird, versteht sich Judas eins mit Jesus "I'm your right man all along". Als Judas Jesus zum ersten Mal begegnete, berührte ihn der Archetyp des Selbst. Doch das Selbst ist im Chaos des kollektiven Unbewussten, deren Bedrohung Judas nun aussen in der Menschenmenge und der Behörde sieht: "I am frightened by the crowd - For we are getting much too loud. And they'll crush us if we go too far", doch die eigentliche Bedrohung kommt von seiner Seele.

Es ist ein Teufelskreis: Judas steht hinter Jesus und fängt an, das Alte zu verlassen. Doch damit hat er dem Grossen Vater den Kampf angesagt und ist in dessen Sicht in Ungnade gefallen, in den Bereich des Ungerechten, des Dämonischen, das zur Mittagszeit getötet werden muss. Und so bekommt das Denken des Judas in seiner glasklaren Folgerichtigkeit etwas Beschwörendes, Magisches. Wie einst der tote Altägypter vor dem Totengericht des Osiris seine Formeln hersagt, versucht Judas als Gerechter zu erscheinen, indem er die logischen Formeln seiner patriarchalen Erziehung aufsagt. Im Bewusstsein seiner Richtigkeit steigert er sich ins Unermessliche und wird selber zu Gott: "But I want us to live!" Sein Wille fordert das Leben. Doch dieses Leben bedingt den Tod!

Leben und Tod bedingen sich und gehören zum Grundthema aller Religionen. Im Alten Testament hat Gott am Anfang Himmel und Erde und alles was darin ist, erschaffen. Und diese Schöpfung erachtete Gott als "gut". Doch im Laufe des Alten Testamentes versucht derselbe Gott immer wieder seine Welt zu vernichten. Er ist Gott wie ihn Deuterojesaja neben Hiob wohl am besten erkennt:

Ich bin Jahwe, und keiner sonst,
der ich das Licht bilde und die Finsternis schaffe,
der ich Heil wirke und Unheil schaffe, ich bin's, Jahwe, der dies alles wirkt.
(Jesaja 45,7)

Auch im Neuen Testament kann Gott nur eine neue Schöpfungstat vollbringen, indem er seinen einzig geliebten Sohn töten lässt. Und in diesem Sinne prophezeit uns Judas richtig:

Listen Jesus to the warning I give! Please remember that I want us to live

Mit dem Willen das Leben zu wollen, lehnt er aber den Weg ab, der ihm bestimmt ist: Sein bisheriges Ich zu opfern und den Weg zur Ganzheit zu gehen. Das Mythische, das sich in seinen Worten zeigt, weist ihm den Weg zum Unbewussten und zum Weiblichen. Doch genau diesen Weg lehnt er ab, was er im 2. Auftritt explizit ausspricht.

It seems to me a strange thing, mystifying!
That a man like you can waste his time on Women of her kind.

Mit diesem Satz im zweiten Auftritt reflektiert er zum ersten Mal bewusst das Weibliche. In seiner Einstellung kann er in Maria Magdalene nur die Dirne erkennen, die es nicht wert ist in der Nähe von Jesus zu sein.

Im Ersten Auftritt ist das archetypisch Weibliche unbewusster. Es bedrängt ihn mit magischer Penetranz in den Ereignissen, die Judas zu reflektieren versucht. Das erste Beispiel kennen wir "my mind is clearer now"! Mir scheint es nicht von ungefähr, dass er fortfährt mit "if you strip away the myth from the man". Hier blitzt das Weibliche in einer vom Patriarchat typisch entwertenden Form auf, als Dirne.

¦<<  <   0 1 2 3 4 5 6 7 >  >>¦  LA EMAIL

Interpretation von
Esther Keller-Stocker (Schweiz)
Text 1986, letzte Revision Februar 2014