AUFSÄTZE ZU EINER GANZHEITLICHEN THEOLOGIE

Esther Keller-Stocker

Der Fischer

Eine Kurzgeschichte

Ich war einmal auf einer Rundreise in Ägypten: Es war früh am Morgen und schon recht heiss. Ich stieg in das Fischerbott, das mich auf eine Insel bringen sollte. Als ich im Boot stand, sank plötzlich das Wasser wie bei Ebbe und die Mauer, an dem das Boot befestigt war, wurde höher und höher.

Eigentlich müsste der Fischer schon da sein. Die Insel soll Welt berühmt sein: ein weisser Fels und hoch oben stehe eine Burg aus uralter Zeit. Die Sonne stach hinunter in den leeren Hafen, ein historischer Hafen aus altägyptischer Zeit.

Und wieder schaute ich die Mauer hoch. Oben sah ich den Fischer, seine Kapuze hatte er tief ins Gesicht gezogen - wie das halt so üblich ist im Nahen Osten. Er stand oben auf der Mauer, sah sich um und sprang dann hinunter, sicher 10 m tief oder mehr. Seine Arme breitete er dabei aus wie Flügel. Ich dachte: "Wow! Das sieht aber toll aus! Und diese Figur, so männlich!" Als der Fischer im Boot ankam, schwankte das Boot überhaupt nicht, wie dies eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Er war etwa 28 Jahre alt. Doch irgend etwas stimmte nicht, das ruhige Boot und das verhüllte Gesicht irritierte mich. Und ich begriff, er war schon seit uralter Zeit 28 Jahre alt. Es wurde mir unheimlich und eigentlich wollte ich mich auf die hinterste Bank verkriechen. Doch das ging gar nicht. Als Touristin war ich hier Gast und musste in der Mitte des Bootes Platz nehmen!

Wortlos setzte sich der Fischer hinten hin, liess den Motor an und fuhr los. Die Sonne, die vorhin so heiss brannte, verzog sich und dichter Nebel stieg auf. Schon bald tauchte in einiger Entfernung ein riesiger weisser Fels vor uns auf. Der Fischer fuhr mit hocher Geschwindigkeit auf den Felsen zu. Ich schaute zurück und dachte unbehaglich: "Er wird ja wohl wissen, was er tut! - Denn wenn mir hier etwas passiert, schadet das der hieigen Reisebranche".

Der Nebel wurde dichter, trüb war das Wetter, bewölkt, verhangen mit dunklen Wolken. Und wir näherten uns ungebrmst dem weissen Felsen, der immer kleiner und kleiner wurde. Zuletzt fegte der Fischer über die Spitze des Felsen hinweg aufs offene Meer hinaus.

Stockfinster war die Nacht, unter uns gurgelte das pechschwarze Wasser. Furcht erfasste mich. Dann spiegelten sich einzelne Sterne, die am Himmel blinkten. Da packte mich plötzlich eine unbändige Wut: "Was macht dieser Kerl hier draussen? Was glaubt er eigentlich?" - "Ich würde mich jetzt umdrehen und um mein Leben winzeln?" - "Da hat er sich aber gehörig verrechnet!" Starr vor Schreck, mit erhobenem Haupt sass ich da wie eine ägyptische Mumie.

Grauer Nebel breitete sich aus und vor uns erhob sich riesig der weisse Fels. Und auf dem Felsen stand ein Schloss mit vier Türmen, deren Dächer in die Himmel hineinreichten. "Oh, da muss ich ein Foto machen!" dachte ich und kramte in der Tasche. "Halten Sie doch mal an für ein Foto - nur schnell ein Foto!" bat ich ihn. Doch der Fischer beachtete mich gar nicht und raste mit übersetztem Tempo weiter, dem Hafen entgegen. Die Kapuze ist ihm nach hinten gefallen.

Die Sonne prallte glühend heiss auf uns nieder, er fuhr langsamer. Ich schaute den gewundenen Weg hoch zur Burg und dachte: "Und jetzt soll ich da hochsteigen zu diesem alten Kasten für Sightseeing?" - "Es wird ja wohl einen Esel geben, der mich da hoch trägt!"

Der Fischer lud mich im Hafen ab und fuhr sofort zurück, um die nächste Touristin/den nächsten Touristen zu holen.

 

Esther Keller-Stocker, 09.06.2017