Aufsätze zu einer ganzheitlichen Theologie

von Esther Keller-Stocker

Halt den Schnabel

Eine Interpretation

Deutsch

Halt den Schnabel, wenn ich fahre

Die Mutter Huhn mit dem Hühnchen ist für einen Ausflug verreist. Sie fahren auf einem Baumstamm an das andere Ufer vom Fluss. Die Mutter Huhn sagt zum Hühnchen: Jetzt mach nicht so einen Krach! Bist im Schwatzen nicht der Beste. Jetzt ist Ruhe auf allen Plätzen! Wenn nicht sofort aufhörst mit Schwatzen, gehen wir nie mehr auf eine Reise!

Refrain: Halt den Schnabel, wenn ich fahre, das uns nichts passiert! Das ist zu viel! Bist jetzt still! Schnabel zu! Jetzt ist Ruh! Die Mutter Huhn sagt zum Hühnchen, doch das Hühnchen hat es nicht verstanden. Und es hat gekreischt und gejohlt und es noch einmal probiert. Und die Mutter Huhn sagt zum Hühnchen: Das ist kein lustiges Spiel! Ich muss unseren Baumstamm führen, muss ihn grade durch die Wellen steuern. Wenn ich das Gleichgewicht verliere, frisst uns beide das Krokodil.

Refrain: Halt den Schnabel, wenn ich fahre .... Die Mutter Huhn sagt zum Hühnchen: Mir wird es langsam zu dumm! Jetzt gehen wir nicht auf diesen Ausflug, So kehren wir halt um! Du Huhn bist wirklich ein Hühnchen! Es ist ja katastrophal! Alles kann man übertreiben, jetzt musst' halt zu Hause bleiben, und zur Strafe Strafaufgaben schreiben und zwar schreibst du hundertmal:

Refrain: Halt ...

Oder auf Schweizerdeutsch*

Halt de Schnabel, wänn i fahre

D'Mama Huehn mit em Hüehnli isch für en Uusflug vereist. Sie fahred uf eme Baumschtamm as ander Ufer vom Fluss. D'Mama Huehn seit zum Hüehnli: jetzt mach nöd so-n-en-Mais! Bisch im Schwätze no kein Fätze - jetzt isch Rueh uf allne Plätze! Wänn nöd sofort uufhörsch schwätze, göm mir nie meh uf e Reis!

Refrain: Halt de Schnabel, wänn i fahre, das eus sicher nüüt passiert! Das isch z'vill! Bis jetzt schtill! Schnabel zue! Jetzt isch Rueh!

D'Mama Huehn seit zum Hüehnli, doch s'Hüehnli hät's nöd kapiert und hät's gigse und gaggse grad no-n-nemal probiert. Und d'Mame Huehn seit zum Hüehnli: Das isch kei luschtigs Spiel! I muess euse Baumstamm füehre, muess en grad durch d'Wäle schtüüre. Wänn i's Gliichgwicht tue verlüüre, frisst eus beidi's Krokodil.

Refrain: Halt de Schnabel, wänn i fahre,

D'Mame Huehn seit zum Hüehnli Mir wird's jetzt langsam z'tumm! Jetzt gömmer nöd uf dä Uusflug, dänn cheered mir halt um! Du Huehn bisch würklich es Hüehnli! Es isch ja kataschrophal! Alles chan mer übertriibe, jetzt muesch halt deheime bliibe und zur Schraf Schtöfzgi schriibe - und zwar schriibsch huntermal:

Refrain: Halt de Schnabel, wänn i fahre,

INTERPRETATION

Das Lied ist mir aufgefallen wegen den Widersprüchen, den Ängsten und Drohungen, die dann wieder mit Hilfe der Ratio verdrängt und vertuscht werden. Es ist ein geradezu klassischer Text, der Auskunft gibt über unsere kollektiv psychische Struktur, unserer Denk- und Reaktionsweise auf verdrängte Gefühle.

Da das Lied an kleine Kinder gerichtet ist, fühlten sich die beiden Autoren gezwungen, mit möglichst krassen Bildern zu operieren. Und diese Bilder sagen auch aus, was IST. Das Huhn und das Hühnchen wollen auf einem Baumstamm sitzend einen gefährlichen Fluss überqueren. Und dieser Fluss führt inmitten durch einen Urwald. Ein krasses Bild vom Strassenverkehr als lebensbedrohliche Situation von urtümlicher Archaik. Der Strassenverkehr ist also eine Situation, der wir im Grunde gar nicht gewachsen sind. Denn was haben zwei Hühner auf einem Baumstamm auf einem gefährlichen Fluss mitten im Urwald zu suchen?

Das Kind das schwächste Glied in unserer Gesellschaft ist häufig auch das Opfer, denn es lebt in einer Welt, die sich an den Vorstellungen der Erwachsenen orientiert. Das Kind lebt in einer Umwelt, in dem das Kind gar keinen Platz hat.

Das Lied impliziert das bekannte Klischee vom gut verdienenden Ehemann, dessen Frau es sich leisten kann, an einem gewöhnlichen Nachmittag mit dem Kind spazieren zu fahren. Die Mutter hat den Ausflug geplant und führt ihn jetzt aus. Das Kind will aber spielen - vielleicht spielt es gerade "autofahren", wie es die Mutter auch tut. Da droht die Mutter dem spielenden Kind: "Bist im Schwatzen nicht der Beste - jetzt ist Ruh auf allen Plätzen!" Dieser Satz ist bar jeder Logik: In der Drohung erinnert sie an das Ideal unserer Gesellschaft "der/die Beste zu sein", hier der Beste im Schwatzen zu sein, andererseits spricht sie ihm dieses ab, und baut damit ihr Verbot auf.

Die Strafandrohung geht aber weiter: "wenn du nicht sofort aufhörst zu schwatzen, gehen wir nie mehr auf eine Reise!" Dies ist Unsinn, denn die Mutter wäre mit dieser Drohung am meisten bestraft. Ausserdem lebt das Kleinkind ausschliesslich in der Gegenwart, so dass es die Drohung gar nicht versteht. Ist es etwas Älter, weiss es aus Erfahrung, dass die Mutter lügt. Zwischen Reden und Handeln, zwischen Denken und Wollen besteht also eine tiefe Kluft.

Eine weitere Diskrepanz liegt darin, dass der Urwaldfluss etwas natürlich Gegebenes ist, während der Strassenverkehr zur menschlichen Zivilisation gehört. Der Urwaldfluss als Metapher für die Autostrasse stellt die Autostrasse als etwas natürlich Gegebenes dar. Urwald, Natur vermittelt in unserer modernen Gesellschaft das Gefühl von Heil und Lebensnähe. Und diese Ebene der Metapher soll das Bedrohliche abwehren, sie soll wie in einer Werbung sagen, dass der Urwaldfluss für Huhn und Hühnchen genauso "ungefährlich" sei wie das Autofahren. Doch die andere Ebene sagt uns, dass das "Autofahren" weit gefährlicher, archaischer ist, als wir es wahrhaben wollen. Da Symbole raum- und zeitlos sind, drückt die Metapher die gefährliche Situation der Bedrohung des Autofahren als auch ein allgemeines Lebensgefühl aus, das wir nicht eingestehen können.

Wie tief das Bild ins kollektive Unbewusste reicht, erkennt man an der archaischen Situation, in der zwei (angeblich) so harmlose Tierchen in der Wildnis spazieren fahren. Das Tier repräsentiert die magische Bewusstseinssphäre*. Im magischen Bewusstsein ist das Tier Totem und somit kollektiver Ich-Träger wie auch dessen Schattenträger.

Diese Struktur kommt im Verlaufe des Liedes folgendermassen zum Ausdruck: Das Kind begreift nicht, dass es nicht spielen soll und macht weiter. Die Mutter erfährt dies als Widerstand und reagiert entsprechend: "Und die Mutter sagt zum Hühnchen, das ist kein lustiges Spiel!" Dabei entwertet sie das kindliche Spiel zugunsten des Spiels der Erwachsenen, dem Autofahren mit der Begründung, es gehe auf Leben und Tod: "Ich muss unseren Baumstamm führen, muss ihn direkt durch die Wellen steuern. Wenn ich das Gleichgewicht verliere, frisst uns beide das Krokodil!" Auf der Schattenebene geht es also um das archaische Motiv von "fressen und gefressen werden", wobei die Gefahr zweifach besteht, nämlich in den bedrohlichen Wellen, die die beiden verschlingen könnten -  und somit an die Sintfluterzühlungen erinnert, welche die Menschheit ertränkt - , und im Krokodil, das sie auffressen will. Da das Krokodil ein anderer Autofahrer/eine andere Autofahrerin ist, fallen die Bilder vom Huhn und Krokodil zusammen. Das Böse wird hier nach aussen projiziert, auf die anderen,obwohl das Mutter-Huhn für die anderen genauso zum Krokodil werden kann.

  • Bild aus: http://www.tierbildergalerie.com/bild-lustig-krokodil-4700.htm
  • Das Lied wurde komponiert und gedichtet von Markus Kühne und Charles Lewinsky.

  • Ex Libris-Verlag, Polydor 831 170-4. Code 70 polGram. Patronat für Unfallverhütung bfu mit Unterstützung des Schweizerischen Fonds für Unfallverhütung im Strassenverkehr.

  • Vgl. Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart, Band I, der magische Mensch

Letzte Revision am 30.05.2014